Big Data, künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen sind im Handel längst nicht mehr nur den technologie-nahen Online-Plattformen vorbehalten. Bereits vor der Krise haben viele stationäre Händler ihre Analytics-Fähigkeiten auf beeindruckende Weise ausgebaut und erfolgreich mit den neuen Möglichkeiten experimentiert. Dynamische Preissetzung, artikelindividuelle Abschriftenoptimierung, nachfragebereinigte Mengenprognose und kundenindividuelles Marketing sind nur ein paar der typischen Anwendungsfelder – und für viele auch nur der Startpunkt: Die Ambitionen waren schon vor der Krise deutlich größer und bekommen jetzt mit steigender Unsicherheit vermutlich zusätzlichen Aufwind.
Neben der Realisierung von operativen Effizienzen soll die Maschine vor allem Kundenbedarfe rechtzeitig erkennen und erfüllen: Das für die priorisierte Kundengruppe richtig kuratierte Sortiment, präsentiert zum richtigen Zeitpunkt und im richtigen Kanal, mit einem nachfrage- und margenoptimalen Preis. Hierzu nutzen und benötigen Algorithmen den über Jahre gesammelten Datenbestand der Händler, um in diesem einfache bis komplizierte, aber vor allem viele Muster und Zusammenhänge zu finden. Eine Aufgabe, die aufgrund der Datenmenge manuell schlichtweg nicht leistbar ist. Auf Basis der erkannten Muster und einer vorher definierten Strategie leiten Algorithmen Handlungsempfehlungen oder automatische Optimierungen ab und sind damit in der Lage, deutlich präzisere Entscheidungen zu treffen.
Es ist unschwer zu erkennen, warum so viele Einzelhändler zunehmend von den Möglichkeiten der neuen Technologie Gebrauch machen. Aber Vorsicht: Im Zuge von COVID-19 wird es zu einigen Verwerfungen kommen. Die Empfehlungen der Maschine – bei aller Prognostik immer basierend auf historischen Daten – sind nach einigen Wochen geschlossener Läden und Kaufverhalten im Krisenmodus mit absoluter Vorsicht zu genießen.
Die große Datenlücke
COVID-19 paralysiert den stationären Einzelhandel. Außer den Grundversorgern sind sämtliche Händler stationär lahmgelegt. Neben den ohnehin dramatischen wirtschaftlichen Auswirkungen dieses Shutdowns gehen den Händlern damit auch wertvolle Transaktionsdaten für ihre Systeme und Modelle verloren. Wenn überhaupt, dann liefert nur noch der Online-Kanal Daten – Relevanz für und Übertragbarkeit auf den stationären Kanal meistens eher gering.
Ohne verlässliche Datenhistorie funktionieren die meisten Algorithmen aber nicht sinnvoll. Die instinktiv erste Lösung ist ein manuelles Löschen der Zeitreihe oder ein Interpolieren der Daten aus der Transaktionshistorie vergangener Jahre – mit der zugrundeliegenden Annahme, dass sich März und April in diesem Jahr ähnlich zu den entsprechenden Monaten der Vorjahre verhalten hätten. Selbst wenn sich die Datenlücke so füllen lässt – und bei einigen Händlern wird dies funktionieren – sollte man dennoch davon ausgehen, dass dieses Hilfskonstrukt zu Fehlschlüssen führt. Die zu erwartenden und vermutlich deutlichen Verwerfungen in Kundenverhalten und Wettbewerbslandschaft nach Ende des Shutdown werden schlicht ignoriert. Doch diese werden dazu führen, dass die alten in den Daten erkennbaren Verhaltensmuster vielfach nicht mehr tragen.
De facto verliert der Handel mit dem Shutdown also nicht nur ein bis zwei Monate Transaktionsdaten, sondern primär eine verlässliche Basis für die Prognose des zukünftigen Kauf- und Nachfrageverhaltens.
Alles zurück auf Start
Nach Wiedereröffnung steht die Handelswelt am Anfang eines Neustarts. Viele der sich aktuell entwickelnden Konsummuster unterscheiden sich deutlich von der Vorkrisenzeit und werden auch nach der Krise weiter Bestand haben: Ob dies der deutliche Schub zu Online, eine stärkere Rückkehr zu lokalen Angeboten und dem „Händler von nebenan“, Tendenzen eines freiwillig gewählten Konsumverzichts oder eine Verschiebung zu bewussterem und nachhaltigerem Kaufen sind, werden die nächsten Wochen zeigen. Auch die Wettbewerbslandschaft wird sich deutlich verändern, sowohl während der Krise, aber vielfach auch im Anschluss, da das Konsumverhalten nur langsam und eher volatil anspringen wird. Die Rettungsmaßnahmen und -pakete der Regierung sind richtig und wichtig, werden aber nicht alle Händler auf Dauer durch die Krise und den Nachlauf tragen können.
Mehr dazu "COVID-19 und Shutdown: Szenarien für den Einzelhandel"
In einer disruptiv veränderten Handelswelt ist die Vorkrisenzeit damit kein guter Indikator mehr für die Zukunft. Künstliche Intelligenz und maschinelle Lernansätze basierend auf historischen Daten und der Annahme, dass zukünftiges Verhalten aus früheren Verhaltensmustern abgeleitet werden kann, stoßen damit an ihre Grenzen und werden keine guten Vorhersagen und Empfehlungen mehr geben können. Oder noch gefährlicher: Sie liefern weiterhin Vorhersagen, deren Qualität und Genauigkeit aber schwer abzuschätzen ist, stark schwankt und zu schmerzlichen Fehlentscheidungen führen kann.
In gewisser Weise werden die Karten im Handel also neu gemischt.
Varianz ist Freund und Feind zugleich
Nach Ende des Shutdowns wird die stationäre Nachfrage zurückkommen. Wie schnell und ob diese das Vorkrisenniveau wieder erreicht ist aktuell noch kaum absehbar. Aber sicher ist, dass der Hochlauf in der Konsumentennachfrage zunächst von vielen Verwerfungen und hoher Varianz geprägt sein wird. Während es auf der einen Seite sicherlich Befreiungs- und Erleichterungskonsum geben wird, werden auf der anderen Seite viele Haushalte aus Vorsicht, Zukunftsangst und bereits erlittenen Einbußen im Haushaltseinkommen zunächst zurückhaltend sein. Je nach Weiterentwicklung der Situation – das Virus wird nach Wiedereröffnung des öffentlichen Lebens schließlich nicht verschwunden sein – können Nachrichten von besserer Eingrenzung oder erneuten Ausbrüchen für weitere Volatilität sorgen. Dazu wird es im Handel zu noch nicht absehbaren Reaktionen auf Über- und Falschbestände kommen, inklusive erratischem Rabattverhalten und Orderverwerfungen in den Folgesaisons.
Eine neue Normalität wird sich damit erst viele Monate nach Ende des Shutdowns einstellen. Die Frage ist, ab wann sich geänderte Kaufgewohnheiten soweit zeigen, dass Systeme wieder in der Lage sind, echte Nachfragemuster zu erkennen.
Aus Maschinensicht ist die hohe Varianz nicht zwingend schlecht. Sie führt zu mehr Beobachtungen und differenzierteren Datenpunkten – oft in Ecken des Zustandsraumes, die normalerweise nicht einfach beobachtbar sind. Die Algorithmen werden dadurch mehr Lernen können als zu normalen Zeiten mit stabiler Kundennachfrage, stabilen Sortimenten und Preisen sowie stabilem Wettbewerb. Die gewonnenen Erkenntnisse werden nicht voll final sein und sich auch langfristig noch weiter einpendeln, ergänzen sich aber mit einem weiteren Vorteil: Händler können die Ausnahmesituation zum gezielten Testen von Hypothesen und Nachfragereaktionen verwenden. Neben neuen Ideen können diese dabei auch gezielt an die aktuellen Datengrenzen ihrer Modelle springen. Etwas, das im stabilen operativen Betrieb normalerweise nicht bzw. nur mit starken Einschränkungen möglich ist.
Big Data reloaded
Alle Händler, die sich auf den Hochlauf nach der Krise vorbereiten, werden sich vorausschauend auf deutliche Veränderungen in Konsumverhalten und Wettbewerbssituation einstellen müssen und können sich dazu viel weniger als bisher auf historische Daten und alte Konsummuster verlassen. COVID-19 nivelliert damit einen Teil des Vorsprungs, den einzelne Händler in den Bereichen Big Data, künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen in den letzten Jahren aufbauen konnten.
Bei allen Schwierigkeiten der Krise kann daher jetzt ein günstiger Zeitpunkt sein, die eigenen Systeme und Methodiken kritisch zu überprüfen und die Fähigkeiten im Bereich Advanced Analytics auszubauen oder aber – ein Minimum an systemischen Fähigkeiten vorausgesetzt – das aufzubauen, was man ohnehin schon seit längerem geplant hat.
Wichtiger als bereits vorher schon ist dabei eine klare Vorstellung und Vision, welche Fragestellungen zukünftig algorithmisch beantwortet werden sollen – gerade, wenn erwartet wird, dass sich Wettbewerbslandschaft und Kundenverhalten nach Ende des Shutdowns deutlich verändern werden. Die entsprechend zu testenden Hypothesen müssen damit ein gutes Stück mehr Zukunftsvermutung beinhalten als zuvor. Darüber hinaus werden sich auch komplett neue Fragestellungen und Hypothesen ergeben, die in den bisherigen Tests oder Analysen gar nicht angedacht waren.
Das starke Bedürfnis nach Daten und Erkenntnissen für die Zeit nach der Krise zeigt sich auch an den aktuell oft gestellten Fragen nach möglichen Zukunftserklärungen durch z.B. Daten aus früheren Krisen oder anderen Ländern – beides Vergleiche, die kaum helfen, da früher betroffene Länder in Asien oder Europa oft komplett andere Einzelhandelsstrukturen aufweisen und historische Krisen niemals eine so umfassende Geschäftsstilllegung gesehen haben.
Sobald die Läden wieder öffnen, beginnt damit auch der Hochlauf der stationären Konsum- und Nachfragedaten. Wer von diesen profitieren möchte, sollte die Zeit jetzt nutzen, um die benötigten Erkenntnisinteressen zu formulieren und die entsprechenden Analysefähigkeiten aufzubauen. Dazu gehört auch die Sicherstellung vollständiger und verwertbarer Datenstrukturen. Der gemeinsam mit dem operativen Geschäft eingeschränkte Datenbetrieb liefert hier möglicherweise die richtige Gelegenheit, ein oft länger schon überfälliges Aufräumen der Datenstrukturen anzugehen.
Dieses Aufräumen und der Ausbau der eigenen Advanced Analytics- bzw. KI-Fähigkeiten kann entscheidend dazu beitragen, frühzeitig die neue Kunden- und Wettbewerbsrealität zu verstehen und sich entsprechende Vorteile im Hochlauf zu sichern.
Sprechen Sie uns an - Wir unterstützen Sie in unsicheren Zeiten