Von Erlebnis-Retail und Pilot-Paralyse
Es ist nicht gerade bahnbrechend neu, darauf hinzuweisen, dass der stationäre Einzelhandel vor großen Herausforderungen durch die Kanalverschiebung zu Online steht. Der Onlinehandel wächst weiter, mit in den meisten Ländern zweistelligen Wachstumsraten – die Corona-Pandemie hat diesen Trend vielerorts noch kräftig verstärkt. Parallel kippen große und ehemals erfolgreiche Händler in die Insolvenz und die sogenannte Retail-Apokalypse ist – schon vor der Corona-Pandemie – zum akzeptierten Narrativ geworden. Es trifft in der Regel stationäre Händler, die es auch schon vor Corona nicht geschafft haben, ihre Geschäftsmodelle an das veränderte Konsumentenverhalten anzupassen und entsprechend Loyalität (und die Ausgaben) ihrer Kunden an die agileren Wettbewerber verloren haben. Und obwohl es eine Reihe von ursprünglich stationären Händlern gibt, die in der Omnikanalwelt trefflich gedeihen, herrscht im Handel auf breiter Front viel Ratlosigkeit, wie dieser anhaltenden Entwicklung zu begegnen sei – zumal es die oft erhoffte EINE Lösung als Befreiungsschlag nicht gibt. Und Corona hat dem Thema sicherlich noch eine neue Dimension an Dringlichkeit beschert.
Während zur Hochzeit der Pandemie die Strategie der meisten stationären Händler darin bestand, sich auf das Überlebenswichtige zu beschränken, gab es vor Corona noch eine bemerkenswerte Bandbreite an Concept Stores, Pop-ups, experimentellen Flagships, Erlebnistempeln oder Konsumentenlaboren, die wie Pilze aus dem Boden schossen – und das nicht nur in den vermeintlich fortschrittlichen Vierteln von amerikanischen oder britischen Metropolen. Dieser Innovationsschub begrenzt sich nicht auf einzelne Sektoren des Handels, sondern findet quer durch alle Bereiche wie Lebensmitteleinzelhandel (LEH), Bekleidung, Kosmetik, Unterhaltungselektronik oder Warenhäuser statt. Auch vor Corona blieben die meisten dieser Versuche allerdings im Pilotstadium stecken: Viele wurden – möglicherweise gar nicht mal zu Unrecht – bei Eröffnung von euphorischen Berichten begleitet, die „The Next Big Thing“ witterten. Einige waren auch sicherlich erfolgreich, sei es für sich genommen oder als Markenstärkung bzw. Erkenntnisgewinn für das gesamte Unternehmen. Allen gemein war und ist aber, dass sie in der Regel Unikate geblieben sind und keine Antwort für ein gesamtes Filialportfolio von mehreren Hundert Standorten lieferten. Und Corona stellt momentan die Frage nach grundsätzlich überlebensfähigen Standorten und den dafür benötigten Konzepten noch einmal dringlicher. Viele Händler stecken entsprechend trotz innovativer Ideen und auch aufgrund von Corona in einer „Pilot-Paralyse“, mit Konzepten, die bereits vor der Pandemie bestenfalls auf wenige Flagships hätten ausgerollt werden können und deren Lösungsbreite nun noch einmal unsicherer geworden ist.
Wo gewinnen?
Die Herausforderung der stationär geprägten Händler ist in der aktuellen Situation noch komplizierter geworden, als sie es ohnehin schon war. Unter immensem, durch die Pandemie noch zugespitztem Margendruck gilt es weiterhin, nicht nur die richtigen Dimensionen für den Wettbewerb mit den Onlinern zu finden, sondern solche, die auch für große Teile des Filialportfolios tragfähig sind. Dabei sind viele dieser Dimensionen schon weitgehend an die Onliner gefallen: Bei Auswahl, Preis (Discount ausgenommen) oder saisonunabhängiger Verfügbarkeit bleiben für überwiegend stationäre Händler wenig Chancen zur Profilierung. Sogar die sofortige Warenverfügbarkeit wird immer weniger zum Alleinstellungsmerkmal – Same Day Delivery und manchmal sogar 1- bis 2-Stunden-Lieferungen in Ballungsgebieten sind irgendwann nicht weniger komfortabel als der Weg in die Stadt und die Parkplatzsuche. Durch Corona neu auf dem Plan beim Einkaufserlebnis ist außerdem der Faktor Hygiene und Sicherheit, bei dem – aufgrund der offensichtlich geringeren Kontaktpunkte – ebenfalls der Online-Handel vorn liegt.
Gibt es vor dem Hintergrund der überwältigenden Vorteile der Onliner noch eine Daseinsberechtigung für den stationären Handel? Vor Corona wäre die Antwort vermutlich noch etwas optimistischer ausgefallen. Doch bei allem Abgesang wird es auch in einer neuen Normalität noch das Bedürfnis nach Erlebnis, Anfassen, Angucken, Ausprobieren geben – und nach etwas Freizeitbeschäftigung Shoppen.
Doch was bleibt an Profilierungschancen selbst in einer Welt, die sich an das Leben mit dem Virus gewöhnt hat? Eine galt auch schon lange vorher: Aufmerksamer, kenntnisreicher, persönlicher Service bleibt nach wie vor ein echter Trumpf und für den Onlinekanal deutlich mangels persönlichen Kontaktes schwerer replizierbar. Vor der Corona-Pandemie konnten zudem Events und Erlebnisse einzelne Highlights setzen, ob Kochkurs, Lesung, Kollektions-Launch-Events oder Technikvorführungen. Sowohl zu Pandemiezeiten als auch vorausschauend muss es jedoch letztendlich vor allem die Sortimentsrelevanz sein, die lokal am Standort überzeugt – erst recht, wenn man sich Lagen abseits der Flagships in den Großstädten anschaut.
Viele Händler stellen sich damit weiterhin die Frage, welche Form von Kuratierung erfolgversprechend sein kann – gerade weil Onlinehändler auf der Basis von Datenverfügbarkeit und 1:1-Marketing ja durchaus in der Lage wären, sehr individuell zugeschnittene Auswahlen zu präsentieren. (Warum viele immer noch so schlecht darin sind, ist ein eigenes Thema.) Dennoch zeigt sich bei vielen Händlern, dass stark lokalisierte Angebote eine erfolgreiche Antwort sein können. Die Mischung aus sehr filigraner Abstimmung auf den lokalen Mix aus Kundengruppen und Einkaufsanlässen, lokal bevorzugten Marken und Produkten und einer Einkaufsatmosphäre mit lokalem (und zugleich hygienischem) Flair spricht bei Konsumenten ein breites Bedürfnisbündel an: neben konkretem Kaufbedürfnis auch Vertrautheit, Zugehörigkeit (das „heimelige Gefühl“), Lust am Entdecken und Besonderheit im Sinne von „Gibt es nur hier“. Letzteres ist im Übrigen zusätzlich differenzierend für Standorte mit Touristenaufkommen.
Dieser lokalisierte Ansatz, bei dem jede Nachbarschaft die für sie „richtige“ Filiale bekommt, reflektiert zudem aktuelle Ansätze in der Stadtplanung, die mehr und mehr auf Stärkung von lokalen, gerne fußläufig erreichbaren Nachbarschaften setzt, statt noch mehr identische Einkaufsmeilen und zentren zu planen. Dieser Trend könnte in Zeiten von Corona noch an Relevanz gewinnen, da die Konsumenten die lokale Einkaufsstraße im heimischen Quartier dem überfüllten Einkaufszentrum oder der Innenstadt einer Metropole womöglich vorziehen.
Systemschreck und Machbarkeit
Neben der ohnehin nicht einfachen Bewältigung der aktuellen Situation sind Lokalisierungstrends für ein Filialsystem zunächst erschreckende Nachrichten: Die Lokalisierung aller Standorte erfordert nicht nur ein sehr granulares Verständnis der jeweils lokalen Kunden, ihres Kaufverhaltens und ggf. ihrer heute noch unerfüllten Wünsche, sondern auch die Aufgabe von Standardisierung und Bündelungseffekten. Doch genau Letztere haben den Einkauf und die Steuerung großer Filialsysteme in den letzten 30 Jahren erst erfolgreich gemacht und sind für einen Großteil der Marge verantwortlich. Ein einheitliches, zentral über Bausteine steuerbares, hoch bündelungsfähiges Format zugunsten von „hundert“ lokalen Varianten aufzugeben klingt zunächst nach Selbstmord, vor allem für die durch wochenlange Corona-Schließungen gebeutelten Händler, die nicht im Lebensmitteleinzelhandel aktiv sind.
Händler, die die Krise überstanden haben – oder auf dem Weg dorthin sind – und den Blick in die Zukunft gerichtet haben, werden jedoch um entsprechende Fragestellungen zur Neuausrichtung und Lokalisierung ihrer Filialportfolios nicht herumkommen. Schaut man sich die Umsetzungsoptionen zudem genauer an, ist heute dank Technologie vieles möglich, was vor fünf oder zehn Jahren noch nach Irrsinn geklungen hätte. So lassen sich heute auf der Basis von bei vielen Händlern existierenden Daten (z. B. Abverkaufsdaten, Daten aus dem eigenen Onlineshop oder Loyalitätsprogrammen) und entsprechenden Algorithmen sehr filigran lokale Bedarfe ermitteln und Sortimente, Varianten und Mengen lokal aussteuern – und zwar ohne das eigene Category-Management oder Merchandising mit der Anzahl lokaler Standortvarianten hochzuskalieren. Gleichermaßen lassen sich mithilfe moderner, Big-Data-fähiger Systeme die richtigen Balancen zwischen einheitlichem Angebotskern und Potenzialen aus lokaler Aussteuerung ermitteln. KI und Machine-Learning-Technologien ermöglichen hier eine Individualisierung, die – müsste man sie mit reiner Personalkapazität bewältigen – nicht machbar wäre. Gerade in puncto Technologie bietet die aktuelle Krise möglicherweise auch eine Chance. Denn mittlerweile haben auch die zögerlichsten Händler verstanden, dass Überleben ohne deutlich mehr Datentechnologie und Analysefähigkeiten noch weniger funktionieren wird.
Neben dem Aufbau der benötigten technologischen Kompetenzen bleibt die Umsetzung in der Breite eine zweite große Herausforderung. Selbst wenn Händler verschiedene Lokalisierungsansätze getestet und erfolgversprechende Varianten gefunden haben, zögern viele beim Ausrollen auf das Filialportfolio. Oft sind es zwei Fragenblöcke, zu denen Händler (zu lange) keine klare Haltung entwickeln. Diese Fragen stellen sich aber in jedem Fall – unabhängig davon, wie vorbereitet Händler darauf sind:
Wie viel des Portfolios benötigt Veränderung, um zukunftsfähig zu bleiben?
- Wie zukunftsfähig sind alle Standorte des eigenen Filialportfolios in den nächsten drei bis fünf Jahren bei Beibehaltung des heutigen (Vor-Corona-)Konzepts bzw. Formats? Konkret: Wie werden Filialergebnisse bei fortgeschriebener Frequenz- und Conversion-Entwicklung voraussichtlich in diesem Zeitraum aussehen?
- Müssen neue lokalisierte oder angepasste Formate dementsprechend eine Antwort für das gesamte Filialportfolio oder große Teile davon liefern? Oder kann man sich auf die Stabilisierung einer Teilmenge schwächelnder Standorte (unabhängig davon, ob vor oder nach Corona) beschränken
Wie muss die Transformation skaliert werden?
- Welche Fähigkeiten zur Transformation braucht das Unternehmen bei welchem Skalierungsbedarf? Welche müssen ggf. noch aufgebaut werden?
- Wie mobilisiert man die oft durchaus existierenden Ressourcen zu dem benötigten, teils fundamentalen Umdenken? Und wie behält man das Momentum in einer bei großen Portfolios zwangsläufig kaskadierenden Implementierung bei?
Welche Antworten ein Unternehmen auf diese Fragen findet, ist sehr individuell. Aber finden muss es sie, um nicht in der Pilot-Paralyse hängen zu bleiben, sondern eine Lösung für wesentliche Teile des eigenen Filialportfolios zu finden – und nicht nur das glitzernde Flagship auf der Kö.
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