COVID-19-Krise zeigt Notwendigkeit zur Neuaufstellung der Supply Chain
Die aktuelle COVID-19-Krise trifft fast alle Unternehmen empfindlich und sie versuchen, ihre Supply Chain mit allen Mitteln am Leben bzw. funktional zu halten. 94% der Fortune-1000-Unternehmen geben an, dass sie auf Grund der COVID-19-Epidemie mit Problemen in der Supply Chain zu kämpfen haben. Das Forschungsunternehmen Oxford Economics warnt, dass das weltweite Wirtschaftswachstum um mehr als 1 Billion US-Dollar schrumpfen könnte.
Dementsprechend stellen sich aktuell zwei Schlüsselfragen:
- Wie kann ich kurzfristig Schaden begrenzen?
- Wie kann ich die richtigen Schlüsse aus der Krise ziehen und meine Supply Chain mittelfristig krisenfester aufstellen?
Während in der Vergangenheit das Hauptaugenmerk auf der Optimierung von Kosten, Working Capital und bedarfsorientierter Lieferung (just-in-time) lag, zeigt die aktuelle Krise, dass sich der Fokus hin zu mehr Robustheit und Flexibilität verschieben muss. Um dies zu korrigieren, ist eine Rekonfiguration der Supply Chain notwendig und die aktuelle COVID-19-Krise kann der richtige Auslöser sein. Es ist davon auszugehen, dass COVID-19 nur stellvertretend für exogene Umstände steht, die der Weltwirtschaft weiter zusetzen werden. Aktuell gibt es auf Grund von zunehmenden Zollkonflikten und Handelsstreitigkeiten, Massenprotesten oder globalem Terrorismus vermehrt Vorkommnisse, die permanent Unsicherheit in der Lieferkette erzeugen.
Um in solchen Situationen die richtigen kurz- und langfristigen Maßnahmen zu identifizieren, ist die Supply Chain ganzheitlich (End-to-End) zu betrachten. Die heutigen komplexen Zusammenhänge machen eine Einzeloptimierung von Prozessbestandteilen wie Einkauf, Produktion, Inbound Logistik, Lager oder Outbound Logistik nahezu unmöglich. Deswegen gilt es, die richtige Balance zwischen Time, Cost und Quality für das Zusammenspiel aller Bestandteile zu finden, um das volle Potential auszuschöpfen.
Teil 1: Brandbekämpfung in der Supply Chain
Brandbekämpfungsstrategien für Krisen am Beispiel von COVID-19
In außergewöhnlichen Situationen, wie der aktuellen COVID-19-Krise, ist eine schnelle, effiziente und effektive Bekämpfung der Brandsituation einer der wichtigsten Faktoren, um negative Auswirkungen auf Ihr Unternehmen zu reduzieren – dies gilt insbesondere, wenn die Krise das Potenzial hat, Ihre Supply Chain in den Grundfesten zu erschüttern.
- Wenn Angebot und Nachfrage nicht mehr in Balance sind. Während Produkte des täglichen Bedarfs übermäßig stark nachgefragt werden, verkaufen viele Händler auf Grund von Filialschließungen gar keine Ware mehr. Beides verursacht eine Schieflage entlang der gesamten Supply Chain.
- Wenn die Supply Chain auf maximale Kosteneffizienz getrimmt ist und jede unkontrollierte Veränderung direkt große Auswirkungen auf Profitabilität und Verfügbarkeit hat
- Wenn einzelne Schritte entlang der Supply Chain zeitlich sehr eng aufeinander abgestimmt (just-in-time) sind und nur wenig Reservekapazität oder Flexibilität besteht. In diesem Fall ist die Supply Chain besonders anfällig für ein Überspringen von Bränden auf angrenzende Prozessschritte.
- Wenn die Supply Chain grundsätzlich viel Working Capital bindet und sich in Krisen das gebundene Kapital weiter erhöht. In Phasen von massivem Umsatzeinbruch verschärfen sich die daraus resultierenden Liquiditätsprobleme noch zusätzlich.
Da unsere Wirtschaft über viele Jahre von wirklich disruptiven Krisen maßgeblich verschont geblieben ist – selbst die Wirtschaftskrise 2008 kommt nicht annähernd an die aktuelle Situation heran – sind viele Unternehmen heute nicht gut vorbereitet. Der Druck – zu lernen, schnell Gegenmaßnahmen zu ergreifen, bewährte Strategien zu entwickeln, diese in Standardprozesse zu gießen und dann zu exekutieren – war schlichtweg nicht da.
Zum Glück kennen wir Krisensituationen aus vielen Lebensbereichen und müssen bei ihrer Bekämpfung nicht bei Null anfangen. Insbesondere aus der Brandbekämpfung kann man viel lernen. Hier sind klare Standards, eine schnelle Reaktion und das Treffen richtiger Entscheidungen unter (Zeit-) Druck überlebenswichtig. Deswegen bieten Feuerbekämpfungsstrategien eine gute Analogie für eine erfolgreiche Krisenbewältigung hinsichtlich unserer Supply Chain. Typischerweise erfolgt die Brandbekämpfung in vier Schritten, bei denen die Reihenfolge eine entscheidende Rolle spielt, um Schaden zu begrenzen und Erfolg zu maximieren – wohlwissend, dass nicht jeder Schritt in jeder Situation Anwendung findet: Alarmierung, Ausbreitungsverhinderung, Entzug Brennmaterial und erst am Ende das aktive Löschen.

Schritt 1: Alarmierung – Transparenz schaffen und Krisen-Strategie entwickeln
Wenn ein Feuer bzw. eine Krise ausbricht, ist es essenziell handlungsfähig zu bleiben. Dafür gilt es sowohl die Ressourcen, die bei der Brand- bzw. Problembekämpfung notwendig sind, als auch die, die bei der anschließenden Weiterführung des Geschäfts mitwirken, zu schützen. Dementsprechend ist es selbstredend, dass Unternehmen „ihre Feuerwehr“ (ihr Krisenpersonal) schützen und somit genau richtig, dass viele ihr Personal ins Home-Office schicken, um die Einsatzbereitschaft hoch und das Ansteckungspotenzial niedrig zu halten.
Im zweiten Schritt ist es wichtig Transparenz über die aktuelle Situation zu erhalten. Zu wissen, wo es brennt und wie groß das Feuer ist, ist entscheidend für die Koordination und Bemessung des Ressourceneinsatzes.
Auf Basis dieser Transparenz in der Supply Chain muss möglichst schnell eine (Brandbekämpfungs-) Strategie entwickelt werden – es braucht einen klaren Plan, wie die Krise angegangen wird. Im Optimalfall gibt es Standardprozeduren, die greifen und im Notfall Sicherheit geben – im schlechtesten Fall erstarrt das Unternehmen in seiner Problemerkenntnis.
Schritt 2: Ausbreitungsverhinderung – E2E Fähigkeiten aufrechterhalten
Bevor ein großer Brand gelöscht werden kann, ist sicherzustellen, dass sich der Brand nicht ausbreitet oder auf andere Schritte der Supply Chain übergreift. Es gilt, die End-to-End Handlungsfähigkeit unbedingt aufrechtzuerhalten und die besonders gefährdeten Prozessschritte zu schützen. Dafür muss geprüft werden, ob die Situation das Potential hat, sich zu einem Flächenbrand zu entwickeln und welche angrenzenden Supply-Chain-Aspekte besonders gefährdet sind.
Insbesondere wenn, wie in der aktuellen Situation, der Brand-Supergau eintritt und Angebot und Nachfrage in einem massiven Missverhältnis stehen, ist die Supply Chain in ihrer Gesamtheit und fast jedem Einzelschritt stark gefährdet. In diesem Falle müssen z.B. bei starken Nachfrageeinbrüchen Lagerkapazitäten sorgfältig gemanaged werden - insbesondere wenn weiter Ware zufließt (Ware ist noch in Produktion und / oder schon unterwegs) und ein Warenabfluss nicht mehr stattfindet (PoS sind geschlossen / Absatzeinbruch). Zusätzlich muss der Warendruck reduziert werden, in dem z.B. Einkaufsmengen reduziert, Liefertermine verschoben, Transportmittel verändert werden oder Ware zwischengelagert wird, um sicherzustellen, dass Transport-, Lager- oder Personalkapazitäten nicht zusätzlich unter Druck geraten.
Schritt 3: Entzug Brennmaterial – Belastung der Supply Chain reduzieren
Nachdem die Ausbreitung des Brandes gestoppt wurde, muss dem Brand seine Feuerkraft entzogen werden – es darf auf keinen Fall weiter Öl ins Feuer gelangen. Bei Krisen wie der aktuellen, gilt es zu prüfen inwieweit das Herunterfahren von Volumina oder die Reduktion der Intensität in einzelnen Schritten bzw. Prozessen hilft, die Gesamtstabilität der Supply Chain zu erhöhen.
Oft zeigt sich z.B., dass sich Transportkapazitäten und Lager schon im Normalzustand in einem ineffizienten Zustand befinden. Wir sehen regelmäßig, dass diese mit Altware oder „Langsamdrehern“ „verstopft“ sind und somit in einer Krise nicht unterstützen können, sondern noch zusätzlich für Krisenpotenzial sorgen. Auch wird im Zuge dessen oft erst viel zu spät die Filialversorgung heruntergefahren bzw. die Zeit des Stillstandes genutzt, um Filialen auf die Zeit nach der Krise vorzubereiten. Schon jetzt ist absehbar, dass bei Wiedereröffnung der Filialen diese mit der falschen saisonalen Ware voll sein werden und dies zum nächsten Problemfall werden wird.
Schritt 4: Aktives Löschen – Krisenbekämpfungsmaßnahmen durchführen
Erst im letzten Schritt kann das Feuer aktiv gelöscht werden bzw. die Schmerzpunkte in der Supply Chain direkt angegangen werden. Es ist wie bei einem Großbrand sehr unwahrscheinlich, dass das direkte Problemlösen bzw. Feuerlöschen von Erfolg gekrönt sein wird, wenn sich das Problem zuvor schon vergrößert oder ausgebreitet hat.
So kann bei klar lokalisierbaren Brandherden – angenommen, COVID-19 hätte sich nie aus der Kernregion heraus verbreitet – in denen „nur“ einzelne Lieferanten oder Lieferantencluster betroffen sind, schnell auf alternative Lieferanten oder Regionen ausgewichen werden. Gemeinsam mit der Reallokation von Produktionskapazitäten sowie der Priorisierung von Aufträgen können die Auswirkungen auf die Supply Chain reduziert, eventuell sogar komplett vermieden werden. Ähnliches gilt für zeitpunktgenaue Lieferungen, die durch Beschleunigung (z.B. von See- auf Luftfracht / Luft-See-Transport), bzw. Entschleunigung (umgekehrt), oft ohne große Beeinflussung der weiteren Lieferkette ablaufen können.
Die richtigen Fragen in Zeiten der Krise
Ziel der kurzfristigen Maßnahmen ist es, schnell die richtige Alarm- und Aktionskette von Schritt 1-4 zu initiieren. Die schnelle Identifizierung und Isolierung der Schmerzpunkte in der Supply Chain sowie die Einleitung und aktive Steuerung von Gegenmaßnahmen ist von entscheidender Bedeutung, damit das Unternehmen weiter handlungsfähig bleibt und seine Geschäftsaktivitäten aufrechterhalten kann.
In der COVID-19-Krise sehen wir täglich, dass Unternehmen schon in ihrer individuellen Situation überfordert sind. Als wäre es noch nicht genug, verändert sich die Gefahrenlage jedoch fast wöchentlich, teils täglich – entsprechend sind die Maßnahmen regelmäßig zu evaluieren und anzupassen.
Im zweiten Teil dieser Serie „COVID-19-Flächenbrand in der Händler-Supply-Chain“ werden wir auf die Krisenprävention eingehen.
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