Das Coronavirus hält die deutsche Wirtschaft in Atem. Scheinbar jeden Tag werden die auferlegten Maßnahmen härter, das öffentliche Leben ist in weiten Teilen der Bundesrepublik fast vollständig zum Erliegen gekommen. Während der LEH und andere Grundversorger einen wahren Ansturm an besorgten Kunden erleben, mussten die übrigen Händler ihre Geschäfte für einen bisher unbestimmten Zeitraum schließen.
Die Handelswelt befindet sich im absoluten Notfallmodus, erste Händler haben bereits drastischen Mitarbeiterabbau angekündigt. Trotz umfangreicher Rettungs- und Überbrückungsmaßnahmen seitens der Bundesregierung wächst die Unsicherheit spürbar und täglich: Kommt die Hilfe der Regierung rechtzeitig an? Wird sie ausreichend sein? Werde ich den Shutdown überleben?
Niemand weiß, ob die staatlich verordneten Maßnahmen zur Eindämmung des Virus wenige Wochen oder gar mehrere Monate andauern werden. Ein Blick nach China zeigt aber, dass wir durchaus mit zwei und mehr Monaten Ausnahmesituation rechnen können und müssen.
Gesamtwirtschaftliche Auswirkungen: Kurzer vs. langer Shutdown
Die wirtschaftlichen Auswirkungen des Shutdowns werden historische und vielfach existenzbedrohende Ausmaße annehmen. Das ifo Institut schätzt die wirtschaftlichen Kosten bei zwei Monaten Shutdown auf 255-495 Mrd. Euro, bei drei Monaten auf 354-729 Mrd. Euro. Gigantische Zahlen, welche die letzte Finanzkrise (100-200 Mrd. Euro BIP-Verlust) fast unbedeutend erscheinen lassen.
Letztendlich sind es aber auch genau diese erschreckend hohen Zahlen, die aus wirtschaftlichen Gründen früher oder später ein Ende bzw. eine Lockerung des Shutdowns erzwingen werden. Unter Gewährleistung der maximalen medizinischen Vorsicht ist eine eingeschränkte Aufhebung der Kontaktsperren ggf. auch vor der Zulassung eines geeigneten Impfstoffes denkbar.
Die Finanz- und Widerstandskraft des Staates, gebündelt in den zahlreichen Rettungsmaßnahmen und -paketen, reicht vielleicht für einen Shutdown von bis zu zwei Monaten. Der Einzelhandel wäre nach der Krise zwar klar angeschlagen, aber vielfach noch funktionsfähig.
Ab einem Shutdown von drei bis vier Monaten wird der volkswirtschaftliche Verlust nicht mehr durch den Staat aufgefangen werden können. Eine Vielzahl an Insolvenzen, stark steigende Arbeitslosigkeit und ein drastischer Konsumrückgang wären die Folge.
Ein noch längerer Shutdown würde Deutschland in seiner Wirtschaftsleistung um Jahrzehnte zurückwerfen. Die Auswirkungen auf unsere Gesellschaft, den sozialen Zusammenhalt und unseren Lebensstandard wären dramatisch. Überlegungen zur Handlungsfähigkeit einzelner Branchen und Unternehmen entsprechend nebensächlich und hinfällig.
Selbst wenn wir davon ausgehen, dass der weitreichende Shutdown irgendwann in den nächsten Monaten endet, werden sich Kundenverhalten und Handelslandschaft nachhaltig verändern. Die Spielregeln werden in den nächsten Wochen und Monaten neu geschrieben, eine Rückkehr in die Welt vor Corona wird es nicht geben.
Nachhaltiger Kanalshift
In Zeiten von Ausgangssperren und Ladenschließungen wenden sich Konsumenten verstärkt dem Onlinekanal zu. Dies gilt auch für Kategorien und Warengruppen, die sie vorher konsequent ausgeschlossen hätten. Wir erwarten hierdurch eine nachhaltige Verhaltensänderung und einen Gewöhnungseffekt, der umso stärker ausfallen wird, je länger der Shutdown andauert.
Viele Händler, inkl. der einschlägigen Online-Plattformen, sehen bereits einen deutlichen Anstieg der Online-Aktivität. Ein besonders interessantes Beispiel ist der aktuelle Lieferboom im LEH. Kurzfristige Lieferungen sind kaum noch möglich, Lieferfenster können teilweise nur mit wochenlangem Vorlauf gebucht werden. Gut möglich, dass wir gerade den – in Deutschland bisher größtenteils ausgebliebenen – Durchbruch des Online-LEH erleben.
Gewisse Parallelen zur SARS Pandemie 2002/03 in Asien sind nicht von der Hand zu weisen. Obwohl der E-Commerce damals noch in den Kinderschuhen steckte, hat der SARS Ausbruch den neuen Technologien einen spürbaren Akzeptanzschub verschafft und gilt als wesentlicher Meilenstein in der Entwicklungsgeschichte der heute alles dominierenden Online-Plattformen.
Natürlich werden nicht alle Händler vom Kanalshift profitieren: Wer vor der Krise Online keinen Fuß fassen konnte, der wird sich auch jetzt schwertun. Eine Verschiebung des Konsums Richtung Online bedeutet immer auch eine Umsatzverschiebung von eher stationär-geprägten Händlern und Marken hin zu den bereits erfolgreich etablierten Online- und Multichannel-Spielern.
Verändertes Konsumverhalten
COVID-19 ist ein einschneidendes Erlebnis für alle Konsumenten. Viele Verbraucher werden in diesem Zuge aktiv ihr Konsumverhalten und ihren Wertekompass hinterfragen.
Ein gestiegenes Gesundheitsbewusstsein könnte dem Health-Trend weiteren Auftrieb verleihen. Unsere schnelllebige Konsum- und Wegwerfgesellschaft könnte durch die Krise eine Rückbesinnung auf Langlebigkeit, Werthaltigkeit und zu einem gewissen Grad auch Verzicht erleben. Tradition, Handwerkskunst und Regionalität könnten wieder stärker in den Fokus rücken, einhergehend mit einer bewussteren Unterstützung lokaler Unternehmer.
Noch ist es sicherlich zu früh, die genauen Auswirkungen zu formulieren. Der Grad der Verhaltensänderung ist immer auch eine Funktion der Dauer: Je länger der Shutdown anhält, desto mehr neue Routinen und Gewohnheiten werden sich bei den Konsumenten verankern. Viele Veränderungen werden zudem erst langfristig sichtbar werden. Das Konsumverhalten vor und während des Hochlaufs wird kein guter Indikator für die langfristigen Veränderungen sein. Es wird starke Verwerfungen mit gegenläufigen Tendenzen aus Vorsicht und Erleichterung bei Konsumenten geben bevor die Normalität in den Einzelhandel zurückkehrt.
Rückläufige Konsumausgaben
Solange die staatlichen Rettungsmaßnahmen ausreichen und es zu keinem deutlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit kommt, werden die mittelfristigen Auswirkungen auf Konsumfreude und -ausgaben merkbar aber begrenzt bleiben. Der Verunsicherung und Ängstlichkeit auf Konsumentenebene stehen ein gestiegenes Freizeit- und Zeitbudget sowie freiwerdende Ressourcen, z.B. durch den plötzlichen Wegfall von Reise- und Freizeitaktivitäten, gegenüber.
Dennoch werden viele Verbraucher ihren nicht dringend benötigten Konsum zurückfahren. Gerade größere Investitionen (Möbel, Haushaltsgroßgeräte, Unterhaltungselektronik etc.) werden um einige Monate verschoben werden. Für benötigte Ersatzinvestitionen besteht aber zumindest eine begründete Hoffnung auf Nachholkonsum im Anschluss an die Krise. Aber bei allen wenig bedarfs- und oftmals stärker saisonal-geprägten Marktsegmenten wie Textil, Lifestyle etc. werden die Verluste aus dem Shutdown nicht aufgeholt – die Käufe sind und bleiben verloren.
Sollten aufgrund der Länge des Shutdowns die Unterstützungsfähigkeiten des Staates nicht mehr ausreichen, ist mit steigenden Insolvenzen und einem deutlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit zu rechnen. In einem solchen Fall würden die Konsumausgaben auch längerfristig deutlich unter das heutige Niveau fallen, die Wirtschaft verfällt in eine tiefe Rezession und die Herausforderungen für den Handel verstärken sich weiter. So gut wie alle Händler müssten sich auf eine lange Durststrecke einstellen.
Neuordnung der Handelslandschaft
Die Rettungsmaßnahmen und -pakete der Regierung werden auch bei einem kurzen Shutdown nicht alle Händler durch die Krise tragen. Unternehmen ohne ausreichende Rücklagen werden bereits schließen müssen, bevor die Hilfe überhaupt realistisch ankommen kann. Vor allem Kleinstunternehmen werden hiervon betroffen sein. Auch bereits angeschlagene Unternehmen, die lange vor COVID-19 in Schieflage geraten sind, werden durch die Regierungspakete nicht gestützt und nur schwerlich überleben.
Je länger der Shutdown dauert, umso brenzliger wird die Situation für den Handel, umso größer wird der Shake-out ausfallen. Sobald die Unterstützungsmöglichkeiten des Staates erschöpft sind, werden neben den kleinen Unabhängigen insbesondere die „Zweitbesten“ und Formate am Ende des Lebenszyklus leiden.
Die „Zweitbesten“ weisen zwar noch ein hinreichend gangbares Leistungsversprechen auf, konnten aber schon länger in Sachen Kundenakquisition und -bindung nicht (mehr) mit der Spitzengruppe mithalten. Die Umsätze stagnierten in der Regel, Online-Angebot und Multichannel-Versprechen wurden kaum angenommen und sind bislang wenig erfolgreich. Zudem kämpfen diese Händler meist mit Kostenineffizienzen und haben im Vergleich zur direkten Konkurrenz wenig Spielraum für weiter abschmelzende Margen.
Die Formate am Ende des Lebenszyklus weisen ähnliche Probleme auf, die Luft zum Atmen ist aber bereits deutlich dünner geworden. Die meisten dieser Händler haben eine stark stationär-geprägte DNA und verfügen über breite Standortportfolien, die schon vor Jahren hätten ausgedünnt werden müssen.
Auch nach Ende des Shutdowns wird nicht sofort wieder Normalität einkehren – und damit ist der Kampf für die beschriebenen Risiko-Händler auch mit Wiedereröffnung der Läden nicht vorbei. Ein gewaltiger Kosten-Backlog, die Reboot-Komplexität, der bereits begonnene Kanalshift und eine zunächst zurückhaltende Käuferschaft werden den Handel auf absehbare Zeit weiter belasten.
Aufrechterhaltung der Handlungsfähigkeit
Für den Einzelhandel muss der Fokus zunächst auf Liquiditätsmanagement, kurzfristigen Kostenmaßnahmen und Kommunikation liegen. Viele Händler haben hier in den letzten Wochen bereits sehr vorbildlich agiert. Sobald die eigene Existenz aber gesichert ist und erste Hochlauf-Pläne in der Schublade liegen, sollten Händler an einer gestärkten Positionierung für die Zeit nach COVID-19 arbeiten.
Maximale operative Exzellenz: Effiziente Strukturen und Kostenvorteile sind während des Shutdowns überlebenswichtig, aber auch für die Zeit danach essentiell. Sie bestimmen, wie schnell Händler wieder Handlungsspielraum und damit strategische und taktische Beweglichkeit bekommen. Auch die aktuell vielfach erwarteten Rabattschlachten zur Wiederbelebung des Konsums werden alle Kostenreserven im Unternehmen beanspruchen. Erfolgreiche Händler nutzen die Zeit des Shutdowns daher zur gezielten Adressierung von Ineffizienzen und bisher nicht ausreichend angegangenen Kostennachteilen.
Enge Kundenbeziehungen: Das Kunden- und Nachfrageverhalten wird sich im Zuge der Krise strukturell und dauerhaft ändern. Alle Händler werden nach der Krise ihre Leistungsversprechen an die neue Realität anpassen müssen. Ein schnelles Verständnis des neuen Kundenverhaltens und eine frühzeitige Reaktion sind erfolgsentscheidend. Händler sollten daher jetzt den Grundstein dafür legen, Änderungen im Konsumentenverhalten schnell und umfassend identifizieren und daraus lernen zu können. Hierzu müssen sie in engere Kundenbindung und die hierfür notwendigen Instrumente investieren. Gleichzeitig sollten Händler überlegen, wie sie bereits jetzt in der Krise Kundenkommunikation und Kundenengagement auf einem hohen Niveau halten können.
Aufstellen für die Zukunft: Auch wenn das Wort „Investitionen“ zur jetzigen Zeit fast abstrus anmuten mag, so kann es doch das Fundament für langfristig nachhaltige Wettbewerbsvorteile sein. Insbesondere in Krisenzeiten, in denen der Wettbewerb mit anderen Herausforderungen zu kämpfen hat. Natürlich steht diese Option nur den halbwegs stabilen Händlern mit ausreichenden Liquiditätsreserven zur Verfügung, diese sollten die Zeit des Shutdowns aber zur Evaluierung von Investitionsmöglichkeiten nutzen. Je nach Händler und Ausgangslage können langfristige Wettbewerbsvorteile z.B. durch gezielte Investitionen in den Online-Kanal, Analyse- und Big-Data-Fähigkeiten, Kundenbindung und -kommunikation, Storeportfoliobereinigung oder durch gezielte M&A-Aktivitäten entstehen.
Wir alle hoffen, dass es einen Weg geben wird, der gesundheitliche Notwendigkeiten priorisiert und dennoch eine baldige, schrittweise Wiederbelebung der Wirtschaft zulässt. Jedes Unternehmen, dass diese Krise erfolgreich durchzustehen kann, sollte bereits jetzt die notwendigen Vorkehrungen für die Zeit nach dem Shutdown treffen.
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